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Anmerkung zu:OLG Bremen 1. Zivilsenat, Urteil vom 15.11.2023 - 1 U 15/23
Autor:Herbert Lang, RA
Erscheinungsdatum:24.04.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1 StVG, § 1 eKFV, § 839 BGB, Art 34 GG, § 823 BGB, § 8 StVG, § 7 StVG, § 21a StVO
Fundstelle:jurisPR-VerkR 8/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Lang, jurisPR-VerkR 8/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Haftung bei Unfällen mit Elektro-Kleinstfahrzeugen



Leitsätze

1. Der Vermieter von E-Rollern haftet nicht aus einer Gefährdungshaftung als Halter, da E-Roller als Elektrokleinstfahrzeuge von der Anwendung des § 7 StVG ausgeschlossen sind.
2. Der Vermieter von E-Rollern genügt grundsätzlich seinen Verkehrssicherungspflichten bezüglich der Art und Weise des Aufstellens der E-Roller, wenn er die hierzu ergangenen Bestimmungen der behördlichen Sondernutzungserlaubnis beachtet, die ihm die Nutzung der öffentlichen Straßen über den Gemeingebrauch hinaus gestattet.
3. Eine über die Bestimmungen der behördlichen Sondernutzungserlaubnis hinausgehende Verpflichtung des Vermieters von E-Rollern, diese so aufzustellen, dass jedes erdenkliche Schadensszenario ausgeschlossen ist, besteht nicht, da dies im Ergebnis einer Gefährdungshaftung entsprechen würde, die nach § 8 Nr. 1 StVG ausgeschlossen ist.
4. Das durch Art. 20 UN-BRK gewährleistete allgemeine Schutzinteresse von Verkehrsteilnehmern mit Behinderungen ist zur Auslegung der Anforderungen der dem Vermieter von E-Rollern erteilten behördlichen Sondernutzungserlaubnis heranzuziehen.



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Bei Elektro-Kleinstfahrzeugen mit bauartbedingter Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h ist die verschuldensunabhängige Haftung aus § 7 StVG nach § 8 Nr. 1 StVG ausgeschlossen.
2. Der Vermieter von E-Scootern verstößt nicht gegen seine Verkehrssicherungspflichten, wenn er sich an die ihm erteilten behördlichen Auflagen hält.
3. Eine Rechtswidrigkeit der behördlichen Sondererlaubnis ist als Amtspflichtverletzung nach § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG geltend zu machen.



A.
Problemstellung
Die in Deutschland seit Juli 2019 zugelassenen Elektro-Kleinstfahrzeuge prägen zunehmend das Straßenbild. Haben sie, wie z.B. Segways oder E-Roller, eine Lenk- bzw. Haltestange, gilt für sie die Elektro-Kleinstfahrzeug-Verordnung (eKEV) vom 15.06.2019. Danach dürfen sie ab dem 14. Lebensjahr gefahren werden und müssen vorhandene Radwege nutzen. Für sie muss eine Betriebserlaubnis sowie eine Haftpflichtversicherung bestehen, zudem sind Beleuchtung, Bremsen, seitliche Reflektoren und eine „helltönende Glocke“ erforderlich. Rechtlich handelt es sich, sofern sie bauartbedingt schneller als 6 km/h fahren können, um Kraftfahrzeuge i.S.d. § 1 Abs. 2 StVG, es gelten allerdings die Verkehrsregeln für Radfahrer. Bei einer bauartbedingten Maximalgeschwindigkeit von 20 km/h wird die Haftung des Halters bzw. Fahrers aus § 7 Abs. 1 StVG bzw. § 18 Abs. 1 StVG in § 8 Nr. 1 StVG ausgeschlossen.
Angesichts der hohen Unfallzahlen ist die steigende Zahl von gerichtlichen Entscheidungen zu Unfällen mit E-Scootern nicht verwunderlich. Auch das OLG Bremen hat sich vorliegend mit der Thematik befasst.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der blinde Geschädigte stürzte am 28.07.2020 als Fußgänger über zwei 1,15 Meter lange E-Roller, die auf dem 5,5 Meter breiten Gehweg in rechtem Winkel zur Hauswand abgestellt waren. Mit seinem Langstock hatte er den ersten Roller als Hindernis wahrgenommen, trat dann jedoch beim Versuch drüberzusteigen auf das zweite Fahrzeug. Bei dem Sturz erlitt er einen stationär behandelten Oberschenkelhalsbruch, aufgrund dessen er von der Vermieterin der Roller Schmerzensgeld verlangt.
Die Beklagte hat eine Sondernutzungserlaubnis des Ordnungsamtes für den Betrieb von 500 E-Rollern. Darin wird sie u.a. zur Gewährleistung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs verpflichtet, wobei die Belange von Senioren, Behinderten und Kindern besonders zu beachten sind. Beim Abstellen der Roller ist ein verbleibender freier Gehweg von 1,5 Metern und ein Mindestabstand zwischen den Fahrzeugen von 0,5 Metern einzuhalten.
Das LG Bremen hatte die Klage abgewiesen.
Das OLG Bremen hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts mit der folgenden Begründung zurückgewiesen:
Eine verschuldensunabhängige Haftung der Beklagten aus § 7 Abs. 1 StVG komme nicht in Betracht, da eine solche bei Elektro-Kleinstfahrzeugen i.S.d. § 1 eKFV gemäß § 8 Nr. 1 StVG gesetzlich ausgeschlossen sei (LG Münster, Urt. v. 09.03.2020 - 8 O 272/19 - RuS 2020, 225; AG Berlin-Mitte, Urt. v. 09.05.2023 - 151 C 60/22 V - RuS 2023, 677).
Ein Anspruch des Geschädigten ergebe sich auch nicht aus § 823 Abs. 1 BGB aufgrund der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht durch die Vermieterin der Roller. Sie sei zwar im Rahmen des Zumutbaren grundsätzlich verpflichtet gewesen, Vorkehrungen zur Vermeidung der Schädigung anderer durch diese zu treffen (std. Rspr., z.B. BGH, Urt. v. 02.10.2012 - VI ZR 311/11 - BGHZ 195, 30; BGH, Urt. v. 06.03.1990 - VI ZR 246/89 - VersR 1990, 796). Da aber im praktischen Leben nicht jegliche denkbaren Gefahren präventiv ausgeschlossen werden können, sei ein Handeln des Pflichtigen nur bei konkreten Gefahrensituationen geboten. Rein abstrakte Gefährdungen seien hingegen Teil des von jedermann zu tragenden allgemeinen Lebensrisikos.
Vorliegend habe die Beklagte nicht gegen ihre Pflichten verstoßen, da sie die ihr behördlich gemachten Auflagen eingehalten habe. So waren nach Abstellen der Roller deutlich mehr als die vorgeschriebenen 1,5 Meter des 5,5 Metern breiten Gehwegs frei und zwischen den beiden Fahrzeugen habe ein ausreichender Abstand vorgelegen. Eine Vorschrift, die Roller in Längsrichtung, nicht also im rechten Winkel zur Hauswand zu parken, gebe es nicht. Dieses sei der Beklagten auch nicht aufgrund unzureichender Berücksichtigung der Behindertenbelange vorzuwerfen. Der Unfall habe sich auf einem sehr breiten Gehweg ereignet vor einem Eckladenlokal, nicht also an einer besonders gefährlichen Stelle wie vor einem Treppenaufgang, einem Seniorenheim oder einem Kindergarten. Von den Rollern seien hier nur alltagstypische Gefahren ausgegangen, wie sie z.B. auch bei Mülltonnen oder in den Gehweg ragenden Straßenbegrünungen auftreten. Die Roller seien zudem nicht derart „kreuz und quer“ abgestellt gewesen, dass der Kläger dazwischen hätte Slalom laufen müssen. In der Situation hätte er mit Hilfe des Langstocks beide Roller erkennen und ihnen ausweichen können, statt zu versuchen drüberzusteigen. Der Sturz sei somit seinem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen.
Eine andere Sicht würde letztlich doch zur Annahme der verschuldensunabhängigen Haftung führen, die der Gesetzgeber in § 8 Nr. 1 StVG ausgeschlossen habe. Denkbar wäre vorliegend nach alledem aufgrund ggf. unzureichender Auflagen allenfalls eine Rechtswidrigkeit der von den Behörden erteilten Sondererlaubnis, die allerdings nach § 839 Abs. 1 BGB ausschließlich gegen diese geltend gemacht werden könnte.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Klageabweisung erstaunt auf den ersten Blick, schließlich ist der blinde Kläger als Fußgänger auf dem Gehweg über zwei abgestellte E-Scooter gestürzt, wodurch sich deren Gefährlichkeit realisiert hat. Die Ursache für das aus Sicht der Geschädigten wenig verständliche Ergebnis liegt allerdings in dem vielfach diskutierten und von Gerichten monierten (vgl. LG Münster, Urt. v. 09.03.2020 - 8 O 272/19 - RuS 2020, 225) Ausschluss einer Gefährdungshaftung für Fahrzeuge mit bauartbedingter Maximalgeschwindigkeit von 20 km/h in § 8 Nr. 1 StVG.
Die Problematik zeigt sich aktuell besonders bei den Elektro-Kleinstfahrzeugen, die eine Vielzahl von Unfällen verursachen, ein Verschulden des Halters bzw. Fahrers für eine Haftung § 823 Abs. 1 BGB ist jedoch oft nicht nachweisbar. Der Gesetzgeber möchte darauf mit ihrer Einbeziehung in die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG bzw. § 18 Abs. 1 StVG reagieren, wozu seit Anfang 2023 nach Empfehlung des 60. Verkehrsgerichtstages 2022 ein Gesetzgebungsverfahren läuft. Dafür sprechen einige gute Gründe, bedenken sollte man jedoch, dass es eine verschuldensunabhängige Haftung bei vergleichbar gefährlichen E-Bikes und Fahrrädern nicht gibt (Bollweg/Wächter, NZV 2022, 370; LG München I, Beschl. v. 19.07.2021 - 17 S 14062/20).
Auf Basis der bestehenden Rechtslage ist das vorliegende Urteil bei näherer Betrachtung juristisch sachgerecht, auch wenn ein gewisses „Grummeln“ verbleibt. Die E-Scooter lagen zwar nicht „kreuz und quer“ auf dem Gehweg, blinde Menschen orientieren sich aber mit ihrem Langstock oft entlang der Hauswände. Diskutabel und wenig überzeugend begründet ist vor allem die Aussage des Gerichtes, der Kläger habe den zweiten Roller als Hindernis erkennen und ihm ausweichen können, nicht also versuchen dürfen drüberzusteigen. Damit werden meines Erachtens die diesbezüglichen Fähigkeiten von Blinden überschätzt. Dem OLG Bremen ist allerdings zuzustimmen, dass sich daraus kein Pflichtenverstoß der Beklagten ergibt, da sie die ihr behördlich gemachten Auflagen in vollem Umfang befolgt hat. Wie vorgeschrieben, standen die E-Roller ordnungsgemäß an der Hauswand, vor allem war der zum Ausweichen verbleibende Gehweg deutlich breiter als geregelt. Rechtswidrig war somit allenfalls die behördliche Sondergenehmigung zugunsten der Beklagten wegen zu geringer Auflagen. Wie der Senat zutreffend ausführt, ergibt sich daraus allerdings kein Anspruch des Geschädigten gegen die Roller-Vermieterin, das wäre vielmehr Gegenstand eines Verfahrens gegen die öffentliche Hand wegen einer Amtspflichtverletzung nach § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG. Richtig ist ebenfalls, dass die Bejahung eines Anspruches in dem vorliegenden Fall die unzulässige Einführung einer vom Gesetzgeber in § 8 Nr. 1 StVG ausgeschlossenen Gefährdungshaftung „durch die Hintertür“ bedeuten würde.
Diesem, die Problematik des § 8 Nr. 1 StVG erneut aufzeigende Urteil kommt als erste OLG-Aussage zu Unfällen mit E-Scootern eine hohe Praxisrelevanz zu. Es handelt sich dabei um den ersten Fall, in dem es um Ansprüche eines dabei Verletzten geht. In den bisherigen Entscheidungen ging es regelmäßig um nur kleinere Fahrzeugschäden, in denen der Kläger sein geparktes Auto jeweils beschädigt vorfand und als Verursacher einen in der Nähe befindlichen E-Roller vermutete (LG München I, Beschl. v. 19.07.2021 - 17 S 14062/20; AG Frankfurt, Urt. v. 22.04.2021 - 29 C 2811/20 (44) - NZV 2022, 390; AG Berlin-Mitte, Urt. v. 27.06.2023 - 151 C 60/22 V - RuS 2023, 677, bestätigt v. LG Berlin, Urt. v. 04.01.2023 - 44 S 33/23 - nicht veröffentlicht; vgl. auch LG Münster, Urt. v. 09.03.2020 - 8 O 272/19 - RuS 2020, 225). So hat z.B. das AG Frankfurt die Klage mit der Begründung abgewiesen, ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB komme mangels Verschuldens nicht in Betracht, eine Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG aufgrund des Ausschlusses in § 8 Nr. 1 StVG. Dessen analoge Anwendung war angesichts des klaren Gesetzeswortlautes ausgeschlossen, da § 8 Nr. 1 StVG vom Gesetzgeber nicht geändert wurde, obwohl die Gefährlichkeit von E-Scootern bekannt war.
Ergänzend zu der Thematik ein paar Worte zu dem etwas missverständlichen Urteil des BGH vom 24.01.2023 (BGH, Urt. v. 24.01.2023 - VI ZR 1234/20 - VersR 2023, 538). Darin wird die Haftung eines „Elektrorollers“ nach der Explosion beim Aufladen seiner ausgebauten Batterie mit einem Fehlen des „Betriebs“ des Fahrzeugs verneint, § 8 Nr. 1 StVG wird nicht erwähnt. Das lag daran, dass es nicht um ein Elektro-Kleinstfahrzeug, sondern um einen dreirädrigen E-Roller mit einer Maximalgeschwindigkeit von 45 km/h ging (Günther, jurisPR-VersR 3/2023 Anm. 1; Krenberger, jurisPR-VerkR 13/2023 Anm. 1).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Unfälle von Elektro-Kleinstfahrzeugen werden die Gerichte in den nächsten Jahren aufgrund deren weiter steigenden Anzahl weiterhin beschäftigen. Die aktuelle Rechtslage dazu ist dahingehend eindeutig, dass der Geschädigte aufgrund des Ausschlusses der Gefährdungshaftung in § 8 Nr. 1 StVG keinen Anspruch hat, wenn er kein Verschulden des Fahrers bzw. Halters nachweisen kann. Es bleibt abzuwarten, inwieweit das initiierte Gesetzesvorhaben zur Einbeziehung der Fahrzeuge in die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG umgesetzt wird.
Für die Praxis noch der Hinweis auf folgende Einzelaspekte zu der Thematik (näher Jahnke, jurisPR-VerkR 20/2022 Anm. 3):
- Da für Elektro-Kleinstfahrzeuge die Verkehrsregeln für Radfahrer gelten, besteht keine Pflicht zum Tragen eines Schutzhelmes. Der § 21a StVO ist angesichts der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h nicht anwendbar. Eine nach der Entscheidung des BGH vom 17.06.2014 (VI ZR 281/13 - VersR 2014, 874) ausreichende diesbezügliche „Übung in der Bevölkerung“ ist bei ihnen wie bei „normalen“ Radfahrern nicht vorhanden (OLG Hamm, Urt. v. 14.02.2023 - 7 U 90/22 - MDR 2023, 980; OLG Nürnberg, Urt. v. 20.08.2020 - 13 U 1187/20 - NJW 2020, 3603).
- Für Elektro-Kleinstfahrzeuge gilt hinsichtlich der strafrechtlichen absoluten Fahrunfähigkeit nach ganz h.M. der gleiche Grenzwert von 1,1 Promille wie für andere Kraftfahrzeuge, nicht also die 1,6 Promille für Fahrräder und E-Bikes (z.B. BayObLG, Beschl. v. 24.07.2020 - 205 StRR 216/20 - DAR 2020, 576; KG, Beschl. v. 31.05.2022 - (3) 121 Ss 40/22 (13/22); OLG Hamburg, Urt. v. 16.03.2022 - 9 Rev 2/22; OLG Frankfurt, Urt. v. 04.10.2021 - 1 Ss 113/21; a.A. OLG Braunschweig, Urt. v. 30.11.2023 - 1 ORs 33/23).



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