Anforderungen an das Konzernprivileg nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜGLeitsatz Das Rechtsfolgensystem der § 10 Abs. 1 Satz 1, § 9 Abs. 1 AÜG ist nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG auf die Überlassung zwischen Konzernunternehmen i.S.d. § 18 AktG nicht anzuwenden, wenn der Arbeitnehmer nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt worden ist (sog. Konzernprivileg). Die Konjunktion „und“ beschreibt ein alternatives Verhältnis der Merkmale Einstellung und Beschäftigung. Das Konzernprivileg ist danach bereits ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung eingestellt „oder“ beschäftigt wird. Die zwingenden Vorgaben des AÜG können nicht dadurch umgangen werden, dass der Arbeitsvertrag nach der Einstellung geändert und der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung als Leiharbeitnehmer beschäftigt wird. Orientierungssatz zur Anmerkung Die Frage, ob das Konzernprivileg europarechtswidrig oder -konform ist, bedarf auf Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstands keiner Entscheidung. - A.
Problemstellung Eine Arbeitnehmerüberlassung ist grundsätzlich gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 AÜG erlaubnispflichtig. In § 1 Abs. 3 AÜG werden gesetzliche Ausnahmen definiert, bei deren Vorliegen die Vorschriften des AÜG – zumindest zu einem weit überwiegenden Teil – für nicht anwendbar erklärt werden, u.a. die Erlaubnispflicht (§ 1 Abs. 1 AÜG), die Überlassungshöchstdauer (§ 1 Abs. 1 Satz 4, Abs. 1b AÜG) und die Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes (§ 8 AÜG). Die in § 1 Abs. 3 AÜG genannten Ausformungen des Einsatzes von Fremdpersonal werden damit (im Vergleich zu einer „klassischen“ Arbeitnehmerüberlassung) in rechtlicher Hinsicht begünstigt. Dies gilt auch für das sog. Konzernprivileg gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG. Die Wirksamkeit dieser gesetzlichen Bestimmung ist umstritten. Gleiches gilt für die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale. Vor diesem Hintergrund wurde die hiesig besprochene Entscheidung des BAG, in der sich der Neunte Senat erstmals vertiefend mit § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG auseinandersetzen musste, mit Spannung erwartet.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der klagende Arbeitnehmer war vom 14.07.2008 bis zum 30.04.2020 bei der X-GmbH angestellt. Seine vertraglich geschuldete Tätigkeit verrichtete er auf dem Werksgelände der beklagten Y-GmbH. Die Y-GmbH und die X-GmbH waren während der Beschäftigungsdauer des Klägers konzernverbundene Unternehmen. Die Umstände, unter denen der Kläger seine Arbeitsleistung erbrachte, sind streitig. Der Arbeitnehmer machte geltend, zwischen ihm und der Y-GmbH sei gemäß den §§ 10 Abs. 1, 9 Abs. 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen, da er seit Anbeginn seiner Beschäftigung bei der Y-GmbH unter Verletzung der Vorgaben des AÜG als Zeitarbeitnehmer und nicht im Rahmen eines Werk-/Dienstvertrages eingesetzt worden sei. Erst- und zweitinstanzlich drang der Kläger mit dessen Feststellungsklage gegen die Y-GmbH nicht durch, dass ein Arbeitsverhältnis mit dieser bestehe. Dessen Revision war hingegen begründet. Das LArbG Hannover habe den Feststellungsantrag – so das BAG – nicht mit der gegebenen Begründung abweisen dürfen. Die Annahme des Gerichts, ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien sei bereits deshalb nicht gemäß den §§ 10 Abs. 1 Satz 1, 9 Abs. 1 AÜG zustande gekommen, weil diese Normen aufgrund der Regelung in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG keine Anwendung fänden, halte einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Zwischen dem Entleiher und dem Zeitarbeitnehmer komme ein Arbeitsverhältnis zustande, wenn der Arbeitsvertrag zwischen dem Verleiher und dem Zeitarbeitnehmer aus einem der in § 9 Abs. 1 AÜG aufgeführten Gründe unwirksam sei und keine Festhaltenserklärung abgegeben werde. Der Unwirksamkeitsgrund nach § 9 Abs. 1 Nr. 1a AÜG sei erfüllt, wenn die Arbeitnehmerüberlassung entgegen § 1 Abs. 1 Sätze 5, 6 AÜG nicht ausdrücklich als solche bezeichnet und die Person des Zeitarbeitnehmers nicht konkretisiert worden sei. Nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG sei das AÜG – mit Ausnahme einiger hiesig nicht in Betracht kommender Bestimmungen – auf die Arbeitnehmerüberlassung zwischen Konzernunternehmen nach § 18 AktG nicht anzuwenden, wenn der Arbeitnehmer nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und beschäftigt werde. Bei einer Arbeitnehmerüberlassung im Rahmen des sog. Konzernprivilegs griffen somit die Rechtsfolgen der §§ 10 Abs. 1, 9 Abs. 1 AÜG nicht ein. Das Landesarbeitsgericht habe angenommen, dass zwischen den Parteien kein Arbeitsverhältnis nach den §§ 10 Abs. 1, 9 Abs. 1 Nr. 1a AÜG begründet worden sei. Es habe offengelassen, ob der Kläger in den Betrieb der Beklagten eingegliedert und gegenüber deren Arbeitnehmern weisungsgebunden gewesen sei. Selbst wenn dies der Fall gewesen sei, könne sich die Beklagte auf das Konzernprivileg nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG berufen, so dass die Vorschriften des AÜG keine Anwendung fänden. Die Vorschrift sei ihrem eindeutigen Wortverständnis nach nur dann unanwendbar, wenn der Arbeitnehmer nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt und nicht zu diesem Zweck beschäftigt worden sei. Vorliegend sei der Kläger bei der X-GmbH schon nicht zum Zweck der Überlassung eingestellt worden. Das Konzernprivileg in der vom Landesarbeitsgericht vorgenommenen Auslegung gelte unabhängig davon, ob es mit Unionsrecht im Einklang stehe. In diesem Zusammenhang widerspricht das BAG: Zwar spreche der Wortlaut von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG („eingestellt und beschäftigt“) auf den ersten Blick dafür, dass das Konzernprivileg nur dann nicht zur Anwendung gelange, wenn sowohl die Einstellung als auch die Beschäftigung zum Zweck der Überlassung erfolgten. Die Verwendung der Konjunktion und zwinge jedoch nicht zu der Annahme, dass das Konzernprivileg nur dann ausgeschlossen sei, wenn beide Merkmale kumulativ vorlägen. Die Konjunktion und kann ebenfalls eine Aufzählung oder Aneinanderreihung ausdrücken. Sie bedinge nicht immer und zwingend ein kumulatives Verständnis. Sinn und Zweck sowie Systematik des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG und der erklärte Wille des Gesetzgebers sprächen dafür, das Wort und als und/oder auszulegen. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG verbleibe bei diesem „alternativen“ Verständnis der Norm ein eigener Anwendungsbereich. Nicht jede Einstellung, in deren Zusammenhang eine Überlassung an ein Konzernunternehmen gestattet sei, erfolge ohne Weiteres „zum Zweck der Überlassung“. Ebenso wenig schließe jede weisungsgebundene Beschäftigung bei gleichzeitiger Eingliederung in ein konzernverbundenes Unternehmen das Konzernprivileg aus. Die zulässige Einstellung mit der Möglichkeit einer Überlassung an ein anderes Konzernunternehmen sei daher von den Voraussetzungen einer unzulässigen Einstellung oder Beschäftigung zum Zweck der Überlassung abzugrenzen. Nach dem gesetzlichen Leitbild dürfe eine Überlassung von Arbeitnehmern im Konzern nicht auf Dauer angelegt sein. Der Schutzzweck des AÜG sei nur dann gewahrt, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung „normalerweise“ gegenüber seinem Vertragsarbeitgeber erbringe und lediglich „anlassbezogen“ einer anderen Konzerngesellschaft zur Arbeitsleistung überlassen werde. Die Absicht und grundsätzliche Möglichkeit einer vertragsgemäßen Beschäftigung müsse weiterhin gegeben sein. Daran fehle es, wenn der Vertragsarbeitgeber für den Arbeitnehmer in seiner Betriebsstruktur auf Dauer keine Beschäftigungsmöglichkeit vorsehe. Das Vorliegen einer Einstellung und/oder Beschäftigung zum Zweck der Überlassung sei dabei – so das BAG – anhand des Arbeitsvertrags oder einer Gesamtbetrachtung der Umstände der Beschäftigung festzustellen. Eine Einstellung zum Zweck der Überlassung liege vor, wenn der Arbeitsvertrag als „Leiharbeitsvertrag“ bezeichnet oder ausgestaltet worden sei. Entsprechendes gelte, wenn der Vertragsarbeitgeber bereits bei Einstellung das erkennbare Ziel verfolge, den Arbeitnehmer regelmäßig als Zeitarbeitnehmer einzusetzen. Dagegen schließe eine im Arbeitsvertrag vereinbarte Konzernversetzungsklausel das Privileg nicht per se aus. Verpflichte sich der Arbeitnehmer, seine Arbeit auch in anderen Konzernunternehmen zu verrichten, werde er dadurch nicht ohne Weiteres „zum Zweck der Überlassung“ eingestellt. Die Konzernversetzungsklausel solle Arbeitgebern lediglich die rechtliche Möglichkeit einer konzernweiten Versetzung einräumen. Sie dokumentiere nicht, dass und wie der Arbeitgeber von ihr Gebrauch machen wolle. Umfasse aber der Unternehmenszweck des Vertragsarbeitgebers auch die Überlassung von Arbeitnehmern an Dritte und solle das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers diesen Zweck dadurch fördern, dass er ebenfalls unter dem Weisungsrecht Dritter tätig werde, liege typischerweise eine Einstellung zum Zweck der Überlassung vor. Für eine Einstellung zum Zweck der Überlassung spreche darüber hinaus, wenn der Arbeitnehmer direkt nach der Einstellung an ein Konzernunternehmen überlassen werde, ohne dass für ihn bei seinem Vertragsarbeitgeber eine Beschäftigungsmöglichkeit vorgesehen sei. Ein Indiz, dass der Arbeitnehmer zum Zweck der Arbeitnehmerüberlassung beschäftigt werden solle, sei gegeben, wenn er regelmäßig oder für einen außergewöhnlich langen Zeitraum an Dritte innerhalb oder außerhalb des Konzerns überlassen werde. Ob dies der Fall sei, beurteile sich insbesondere nach dem Unternehmenszweck des Vertragsarbeitgebers, der Dauer und Häufigkeit der Überlassung/-en, aber auch deren Unterbrechungen sowie dem Anlass der Überlassung. Verfüge das überlassende Konzernunternehmen über keine eigene Betriebsorganisation, innerhalb derer es den Arbeitnehmer mit der arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit beschäftigen könne, werde dort eine regelmäßige Beschäftigung nicht möglich sein. Dies spreche dafür, dass der Arbeitnehmer zum Zweck der Überlassung eingestellt und/oder beschäftigt werden solle. Eine Beschäftigung zum Zweck der Überlassung könne nicht bereits bei jeder tatsächlichen Überlassung vorliegen, da § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG anderenfalls keinen Anwendungsbereich hätte. Des Weiteren zeige ein Vergleich mit § 1 Abs. 3 Nr. 2a AÜG, dass die Voraussetzung „zum Zweck der Überlassung“ erst jenseits einer bloß „gelegentlichen“ Überlassung erfüllt sei. Bei der Bewertung der Überlassungsdauer sei ein Rückgriff auf feste Zeitgrenzen ausgeschlossen. Es wäre ein Zirkelschluss, auf die in § 1 Abs. 1b AÜG geregelte Überlassungshöchstdauer zurückzugreifen, die aufgrund des Konzernprivilegs grundsätzlich gerade nicht zur Anwendung kommen solle. Ein Indiz für eine Beschäftigung zum Zweck der Überlassung liege vor, wenn die konzerninterne Überlassung auf Dauer oder für einen unbestimmten Zeitraum erfolge bzw. erfolgen solle. In einem solchen Fall könne in der Regel nicht mehr davon ausgegangen werden, dass für den Arbeitnehmer eine Beschäftigung bei seinem Vertragsarbeitgeber vorgesehen sei. Bei einer langfristigen Überlassung finde regelmäßig eine Verlagerung des Schwerpunkts des Arbeitsverhältnisses statt. Diese äußere sich darin, dass der überlassene Arbeitnehmer einerseits dem Betrieb des Verleihers entfremdet und andererseits immer fester in die Betriebs- und Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert werde. Eine länger andauernde Überlassung könne allerdings unschädlich sein, wenn ihr ein sie rechtfertigender Anlass zugrunde liege. Entscheidend seien stets die Gesamtumstände. Besondere Bedeutung komme dem Anlass der Überlassung zu. Liege der Konzernüberlassung ein besonderer Anlass zugrunde, insbesondere ein solcher, der im Interesse des Arbeitnehmers begründet sei, z.B. Trainee, Vertretung, Einweisung, Schulung des überlassenen Arbeitnehmers, oder seien im fremden Konzernunternehmen besondere Aufgaben wahrzunehmen, z.B. Aufbauhilfe, Schulung von Mitarbeitern des anderen Unternehmens, spreche dies indiziell gegen eine Beschäftigung zum Zweck der Überlassung. Davon sei auch auszugehen, wenn der Grund für die Überlassung einem der in § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG aufgezählten Befristungsgründe zuzuordnen sei. Diene die Überlassung demgegenüber der Erledigung regelmäßig beim entleihenden Konzernunternehmen anfallender Aufgaben und liege beim Vertragsarbeitgeber ebenfalls kein besonderer Grund für die Abgabe des überlassenen Arbeitnehmers vor, spreche dies für eine Beschäftigung zum Zwecke der Überlassung. Das BAG konnte den Rechtsstreit nicht abschließend entscheiden und verwies diesen zurück an das LArbG Hannover, das – so die höchstrichterliche „Segelanweisung“ – zu prüfen habe, ob der Kläger bei der Beklagten als Erfüllungsgehilfe der X-GmbH im Rahmen eines Werkvertrags eingesetzt oder dieser als Zeitarbeitnehmer überlassen worden sei. Sollte das Landesarbeitsgericht feststellen, dass der Kläger nicht im Rahmen eines Werkvertrages eingesetzt worden sei, käme es darauf an, ob sich der Kläger auf den Ausschluss des Konzernprivilegs berufen könne. In diesem Zusammenhang werde zu berücksichtigen sein, dass es indiziell gegen die Anwendung des Konzernprivilegs spreche, wenn der Kläger nach Begründung seines Arbeitsverhältnisses mit der X-GmbH über mehrere Jahre durchgehend bei der Beklagten als Zeitarbeitnehmer zum Einsatz gekommen sei.
- C.
Kontext der Entscheidung Aus der Entscheidung des BAG lassen sich für die Praxis wesentliche Erkenntnisse für oder auch gegen die Einschlägigkeit des Konzernprivilegs ableiten. Die überwiegende Ansicht in der Literatur vertritt die Auffassung, dass das Konzernprivileg gegen europarechtliche Vorgaben aus der Zeitarbeitsrichtlinie verstoßen soll (vgl. Schüren/Hamann, AÜG, § 1 Rn. 634 m.w.N.). Zwar waren die Auslegung und Anwendung von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG in der Vergangenheit schon Gegenstand prozessualer Auseinandersetzungen. In diesen haben sich die Gerichte jedoch insbesondere mit einer möglichen Europarechtswidrigkeit nicht bzw. nicht vertiefend auseinandergesetzt, sondern die Vorschrift angewendet (vgl. LArbG Erfurt, Urt. v. 12.04.2016 - 1 Sa 284/15, das auf eine europarechtliche Anfälligkeit hinweist und sodann ausdrücklich feststellt, dass die Norm gilt, da sich der Gesetzgeber nicht zu einer Streichung entschlossen hat; offenlassend: BAG, Urt. v. 20.01.2015 - 9 AZR 735/13; LArbG Stuttgart, Beschl. v. 11.02.2016 - 3 TaBV 2/14; so auch: LArbG Hannover, Urt. v. 09.11.2023 - 5 Sa 180/23, 5 Sa 178/23; LArbG Hannover, Urt. v. 12.01.2023 - 5 Sa 212/22, 5 Sa 213/22; dazu: Bissels/Singraven, jurisPR-ArbR 18/2023 Anm. 2 m.w.N.). Das BAG musste diese Frage vorliegend ebenfalls nicht entscheiden. Der Neunte Senat hat aber zumindest klargestellt, dass die Konjunktion und im Tatbestand von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG wie ein oder zu verstehen ist. Diese Ansicht wurde bereits überwiegend in Rechtsprechung und Schrifttum vertreten (vgl. LArbG Stuttgart, Beschl. v. 11.02.2016 - 3 TaBV 2/14; Bissels/Singraven, ArbR 2025, 115, 117; Urban-Crell/Germakowski/Bissels/Hurst, § 1 AÜG Rn. 332 f.; Tschöpe/Bissels, Teil 6 D Rn. 62; Lembke, BB 2012, 2497, 2499; Schüren/Hamann, AÜG, § 1 Rn. 615; Bissels/Singraven, jurisPR-ArbR 18/2023 Anm. 2 m.w.N.), so dass die Entscheidung nach unserem Dafürhalten wenig überraschend ist. Der Arbeitnehmer darf folglich „nicht zum Zweck der Arbeitnehmerüberlassung eingestellt oder beschäftigt“ worden sein. Würde das „Und“ im wörtlichen Sinne verstanden, wäre eine Umgehung des begrenzenden Tatbestandes in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG ohne Weiteres möglich, indem ein Mitarbeiter zunächst nicht als Zeitarbeitnehmer eingestellt wird, aber im Nachgang – ggf. kollusiv – einvernehmlich zwischen den Parteien eine Ergänzungsvereinbarung geschlossen wird, die einen Einsatz im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung gestattet, und auf dieser Grundlage eine ständige oder zumindest überwiegende Beschäftigung als Zeitarbeitnehmer erfolgt oder es schlicht faktisch zu einer entsprechenden Beschäftigung kommt (ohne Abrede). Bei einer Verknüpfung mit und wäre das Konzernprivileg einschlägig, da es zumindest an dem ausschließenden Merkmal „Einstellung zum Zwecke der Überlassung“ fehlen würde. Das BAG begründet das Ergebnis überzeugend – neben dem Sinn und dem Zweck der gesetzlichen Regelungen – mit systematischen Erwägungen sowie dem erklärten Willen des Gesetzgebers. Für die Praxis steht damit fest, dass ein „Und“ – zumindest in Zusammenhang mit dem Konzernprivileg – durchaus ein „Oder“ sein kann. Welche Anforderungen an eine Einstellung oder Beschäftigung i.S.v. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG zu stellen sind, wird vom BAG nicht trennscharf definiert. Vielmehr kommt es auf die Gesamtumstände des jeweiligen Einzelfalls an. Der Neunte Senat gibt jedoch zahlreiche Indizien und Kriterien vor, die für oder gegen die Anwendung des Konzernprivilegs sprechen können. Dagegen spricht: - •
Die Bezeichnung oder Ausgestaltung des Arbeitsvertrags als „Leiharbeitsvertrag“. - •
Das bei Einstellung bereits erkennbare Ziel des Vertragsarbeitgebers, den Arbeitnehmer regelmäßig als Zeitarbeitnehmer einzusetzen. - •
Der Unternehmenszweck des Vertragsarbeitgebers ist auf die Überlassung von Arbeitnehmern an Dritte ausgerichtet, und das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers soll diesen Zweck dadurch fördern, dass er auch zu diesem Zweck eingesetzt wird. - •
Die direkte Überlassung nach Einstellung an ein anderes Konzernunternehmen, ohne dass eine Beschäftigungsmöglichkeit bei dem Vertragsarbeitgeber vorgesehen ist. - •
Keine eigene Betriebsorganisation bei dem Vertragsarbeitgeber vorhanden, innerhalb derer er den Arbeitnehmer mit der arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit beschäftigen kann.
Regelmäßige oder für außergewöhnlich lang andauernde Zeiten der Überlassung – unter Berücksichtigung des Unternehmenszwecks des Vertragsarbeitgebers, der Dauer und Häufigkeit der Überlassung/en, deren Unterbrechungen sowie des Anlasses der Überlassung – können ebenfalls gegen die Anwendung des Konzernprivilegs sprechen, wobei das BAG bei der Überlassungsdauer keine feste Zeitgrenze definiert und sich dabei – zu Recht – auch nicht an der (gesetzlichen) Überlassungsdauer orientiert (Zirkelschluss, vgl. auch: Tschöpe/Bissels, Teil 6 D Rn. 62). Eine auf Dauer oder für einen unbestimmten Zeitraum erfolgende Überlassung kann schädlich sein. Bei längerfristigen Einsätzen kommt es auf die Umstände des Einzelfalls und insbesondere auf einen (rechtfertigenden) Anlass an, der im Rahmen der Gesamtumstände eine besondere Bedeutung hat. Indiziell spricht gegen eine Beschäftigung zum Zwecke der Überlassung, wenn - •
der Arbeitnehmer ein besonderes Interesse an dem Einsatz hat, z.B. Trainee, Vertretung, Einweisung, Schulung, - •
bei dem entleihenden Konzernunternehmen besondere Aufgaben wahrzunehmen sind, z.B. Aufbauhilfe, Schulung von Mitarbeitern des anderen Unternehmens, oder - •
für die Überlassung ein Grund herangezogen werden kann, der in § 14 Abs. 1 Satz 2 TzBfG genannt ist.
Für eine Beschäftigung zum Zwecke der Überlassung kann hingegen indiziell sprechen, wenn der überlassene Arbeitnehmer beim entleihenden Konzernunternehmen regelmäßig anfallende Aufgaben erledigt und kein besonderer Grund für die Überlassung vorliegt oder erkennbar ist. Eine Konzernversetzungsklausel ist zunächst neutral und nicht per se schädlich.
- D.
Auswirkungen für die Praxis In der Praxis ist die Nutzung des Konzernprivilegs durchaus verbreitet und gleichermaßen beliebt, um ohne erheblichen (bürokratischen) Aufwand und insbesondere ohne die Anwendung der wesentlichen regulatorischen gesetzlichen Bestimmungen des AÜG Arbeitnehmer im Konzern bei verschiedenen Gesellschaften einzusetzen, z.B. um Personalbedarfe und -überschüsse bei den konzernangehörigen Unternehmen besser steuern zu können oder Spezialkenntnisse von einzelnen Mitarbeitern oder Arbeitnehmergruppen – neben dem Vertragsarbeitgeber – anderen Gesellschaften der Gruppe zugänglich zu machen. Die angekündigte Entscheidung des BAG hätte es also in sich haben können, wenn es tatsächlich um die Europarechtswidrigkeit von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG gegangen wäre und der Neunte Senat diese problematisiert hätte. In diesem Fall hätte das BAG allerdings wohl kaum durchentscheiden können, sondern hätte im Zweifel vorab den EuGH angerufen, um bei diesem anzufragen, ob das Konzernprivileg mit den Vorgaben der Zeitarbeitsrichtlinie in Einklang steht (diese sieht eine entsprechende Ausnahme nämlich nicht vor) oder nicht. Dies ist jedoch nicht geschehen. Konsequenterweise hat sich das BAG zu der Frage der Europarechtskonformität bzw. -widrigkeit von § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG nicht geäußert. Diese war nicht entscheidungserheblich und konnte folglich offenbleiben. Der Neunte Senat stellt fest, dass das Konzernprivileg – mangels Arbeitnehmerüberlassung – keine Rolle spielen kann, wenn der klagende Arbeitnehmer hiesig in einem Werkvertrag eingesetzt worden sein sollte. Sollte eine Arbeitnehmerüberlassung vorgelegen haben, dürfte das Konzernprivileg aufgrund des über zwölfjährigen Einsatzes des Klägers bei der Y-GmbH indiziell nicht eingreifen. Das Konzernprivileg wäre unabhängig von dessen Unionsrechtskonformität nicht einschlägig. Dies hätte zur Folge, dass die Bestimmungen des AÜG ohne Einschränkungen anwendbar wären. Die Frage, ob § 1 Abs. 2 Nr. 3 AÜG europarechtswidrig oder -konform ist, wird daher bis auf Weiteres offenbleiben bzw. zumindest nicht höchstrichterlich geklärt werden. Über dem Konzernprivileg wird vor diesem Hintergrund bis auf Weiteres das Damoklesschwert einer Europarechtswidrigkeit schweben. Dies ist in der Praxis allerdings grundsätzlich hinnehmbar, wird § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG von den Behörden, u.a. von der Bundesagentur für Arbeit und dem Zoll, angewendet. Eine Verwerfungskompetenz steht diesen nicht zu. Gleichwohl können die selbstverständlich die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit bzw. den Ausschluss des Konzernprivilegs prüfen, die das BAG in der hiesig besprochenen Entscheidung konkretisiert. Mit Blick auf die nach dem BAG erforderliche Gesamtbetrachtung der Einzelfallumstände tun Unternehmen gut daran, von der Konzernüberlassung eher dosiert oder restriktiv Gebrauch zu machen. Optimalerweise wird diese Art des unternehmensübergreifenden Personaleinsatzes durch Richtlinien begrenzt, die die Kriterien dafür intern festlegen, ob eine Konzernüberlassung durchgeführt werden kann oder nicht. Wesentlich ist dabei insbesondere, dass eine solche immer nur zeitlich befristet erfolgen sollte (ggf. sogar mit einem zeitlichen „Deckel“ oder einer „Abkühlphase“ vor einer weiteren Überlassung versehen wird) und eines rechtfertigenden, sachlich begründeten Anlasses bedarf, der vor Beginn der Überlassung zu dokumentieren ist. Unternehmen tun grundsätzlich gut daran, in diesem Zusammenhang eher restriktive Vorgaben zu machen, um nicht im Nachgang „kalt erwischt“ zu werden. Bestehende Richtlinien sollten mit Blick auf die Entscheidung des BAG zumindest einer Überprüfung und – sofern erforderlich – einer Überarbeitung unterzogen werden.
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