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Anmerkung zu:BGH 1. Strafsenat, Beschluss vom 21.09.2022 - 1 StR 479/21
Autor:Dr. Nicolas Böhm, RA
Erscheinungsdatum:20.03.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 244 StPO, § 257c StPO
Fundstelle:jurisPR-StrafR 5/2023 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Mayeul Hiéramente, RA und FA für Strafrecht
Zitiervorschlag:Böhm, jurisPR-StrafR 5/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Rechtswidrige Verständigung i.S.d. § 257c StPO: Unvollständige Belehrung des Angeklagten und unzulässiger Verständigungsgenstand



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Die einem Angeklagten auferlegte Verpflichtung, als Gegenleistung für die Zusage eines bestimmten Strafrahmens neben einem Geständnis zusätzlich keine zu einer Verzögerung des Verfahrens führenden (Beweis-)Anträge zu stellen, kann nicht zum Gegenstand einer Verständigung gemacht werden.
2. Wird der Angeklagte zwar darüber belehrt, unter welchen Voraussetzungen sich das Gericht von seiner Verständigungszusage lösen darf, sowie über die Pflicht, ein Abweichen unverzüglich mitzuteilen, nicht aber auch über die Folgen einer Abweichung (was auch die Unverwertbarkeit des Geständnisses in dem Falle, dass sich das Gericht von der Verständigung lossagt, einschließt), beruht das Urteil regelmäßig auf diesem Belehrungsfehler.



A.
Problemstellung
Der BGH hatte sich mal wieder mit einem Urteil zu beschäftigen, dem eine Verständigung vorausging, die aus verschiedenen Gründen nicht mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang zu bringen ist. Konkret monierte der 1. Strafsenat zum einen einen Verstoß gegen die Belehrungspflicht dergestalt, dass das Gericht den Angeklagten nicht über die Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht gestellten Ergebnis belehrte. Und zum anderen hat der Senat die Verknüpfung einer Strafrahmenzusage mit dem Verzicht des Angeklagten auf weitere Beweisanträge als mit dem Willen des Gesetzgebers unvereinbar und daher unzulässig angesehen.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In einem gegen eine Vielzahl von Angeklagten geführten Hauptverhandlung hat das Landgericht die Angeklagten u.a. wegen banden- und gewerbsmäßiger Steuerhehlerei sowie wegen Beihilfe zur banden- und gewerbsmäßigen strafbaren Verletzung von Gemeinschaftsmarken (Unionsmarken) zu unbedingten Freiheitsstrafen verurteilt. Diesen Verurteilungen gingen zum Teil Verständigungen voraus.
In einem Fall sollten zwei Angeklagten nach dem Vorschlag des Landgerichts die Tatvorwürfe nicht nur gestehen, sondern auch keine „Beweisanträge und Anträge, die zu einer Verzögerung eines Verfahrensabschlusses führen würden“, stellen. Im Gegenzug sicherte die Kammer zu, die Strafen aus einem Strafrahmen von zwei Jahren und sechs Monaten bis zu zwei Jahren und zehn Monaten zu verhängen. Diesem Vorschlag stimmten die beiden Angeklagten zu.
Bezüglich eines weiteren Angeklagten hat der Vorsitzende der Strafkammer diesen ausschließlich darüber belehrt, unter welchen Voraussetzungen sich das Gericht von seiner Verständigungszusage lösen darf und über die Pflicht, ein Abweichen unverzüglich mitzuteilen. Eine Belehrung über die Folgen einer Abweichung, insbesondere über die Unverwertbarkeit eines Geständnisses im Falle des Entfallens der Bindungswirkung, unterblieb indes.
Auf die jeweils von den Angeklagten erhobenen Verfahrensrügen hob der 1. Strafsenat die auf die Verständigung beruhenden Urteile wegen Verstößen gegen § 257c StPO auf.
Was die Verknüpfung einer Strafrahmenzusage mit dem Verzicht des Angeklagten auf weitere Beweisanträge betrifft, ging der BGH davon aus, dass diese Verknüpfung unsachgemäß und damit rechtswidrig sei. Allenfalls wäre es möglich, einzelne Anträge zum Gegenstand der Verständigung zu machen, weil anderenfalls die Verletzung der Aufklärungspflicht zu besorgen sei.
Hinsichtlich der unterbliebenen Belehrung stellte der BGH klar, dass diese die Fairness des Verständigungsverfahrens sichern und die Autonomie des Angeklagten umfassend schütze. Ferner beuge die Belehrung einer Gefährdung der Selbstbelastungsfreiheit vor, die mit der Aussicht auf eine (das Gericht bindende) Zusage einer Strafobergrenze und der dadurch begründeten Anreiz- und Verlockungssituation einhergehen könne. Dieser grundlegenden Bedeutung der Belehrungspflicht sei aber nur dann hinreichend Rechnung getragen, wenn der Angeklagte vollumfänglich über die Tragweite seiner Mitwirkung an der Verständigung informiert sei. Da das Beruhen des Belehrungsfehlers für das Geständnis nicht ausgeschlossen werden könne, hob der BGH das Urteil auf.


C.
Kontext der Entscheidung
Mit vorliegender Entscheidung, die uneingeschränkt Zustimmung verdient, bestätigt der BGH seine – mitunter entscheidend von den Vorgaben des BVerfG geprägte (vgl. hierzu die Grundsatzentscheidung BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 - NJW 2013, 1058) – Rechtsprechung zu den Voraussetzungen eines rechtmäßigen Verständigungsurteils sowie zu den Rechtsfolgen einer diesen Anforderungen nicht genügenden Verständigung.
Die Gestaltungsmöglichkeiten einer Verständigung i.S.d. § 257c StPO sind nicht unendlich. Im Gegenteil: Als zulässige Gegenstände von Verständigungen benennt § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO ausschließlich („nur“) Rechtsfolgen, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde liegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten.
Mit dem Prozessverhalten sind sowohl Handlungen gemeint, die in der Sphäre des Angeklagten liegen, als auch Handlungen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage. Vor allem geht es um den Verzicht auf die Geltendmachung prozessualer Rechte (so auch Ignor/Böhm in: MAH Strafverteidigung, 3. Aufl. 2022, § 13 Rn. 39). Das Spektrum möglicher „Verzichtsleistungen“ ist weit und im Einzelnen umstritten (genauer hierzu Ignor/Wegner in: SSW-StPO, 5. Aufl. 2023, § 257c Rn. 48 ff.). So wird beispielsweise unterschiedlich beantwortet, ob eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch tauglicher Inhalt einer Verständigung sein kann (dafür OLG Nürnberg, Beschl. v. 10.08.2016 - 2 OLG 8 Ss 289/15 - StraFo 2016, 473; dagegen OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.01.2020 - (1) 53 Ss 152/19 (83/19) - NStZ 2020, 759, 760).
Zumeist wird es aber um einen Verzicht auf Anträge der Verteidigung gehen, wie etwa auf Richterablehnungsgesuche oder auf Anträge auf Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung (ähnlich Eschelbach in: BeckOK-StPO, 46. Ed. 01.01.2023, § 257c Rn. 17). Insofern gilt: Jede unsachgemäße Verknüpfung des jeweils angesonnenen oder in Aussicht gestellten Verhaltens ist unzulässig. Dies entspricht nicht nur dem erklärten Willen des Gesetzgebers (BT-Drs. 16/12310, S. 13), sondern war auch schon in der älteren Rechtsprechung des BGH, also vor Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes, anerkannt (grundlegend BGH, Urt. v. 19.02.2004 - 4 StR 371/03 - BGHSt 49, 84). Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, die Rücknahme eines bereits gestellten Beweisantrags zum Gegenstand einer Verständigung zu machen (BVerfG, Beschl. v. 21.04.2016 - 2 BvR 1422/15 - NStZ 2016, 422, 424). Eine unsachgemäße Verknüpfung liegt aber dann vor, wenn – wie hier – dem Angeklagten auferlegt wird, im Zuge einer Verständigung als Gegenleistung für die Zusage eines bestimmten Strafrahmens neben einem Geständnis zusätzlich keine zu einer Verzögerung des Verfahrens führenden Anträge zu stellen.
Dass ein solcher „Kauf“ einer Strafmilderung durch den Verzicht auf Beweisanträge contra legem ist, hat nicht nur explizit der Gesetzgeber hervorgehoben (BT-Drs. 16/12310, S. 13); es lässt sich auch schon § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO entnehmen. Sofern nämlich ein möglicher Beweisantrag, dessen Inhalt dem Gericht im Rahmen von Erörterungen über eine mögliche Verständigung zur Kenntnis gebracht wird, das Gericht zur Aufklärung von Amts wegen (§ 244 Abs. 2 StPO) zwingt (was bei Beweisanträgen, die Haupttatsachen betreffen, regelmäßig der Fall sein dürfte), muss es seiner Aufklärungspflicht ausnahmslos nachkommen (überzeugend Ignor/Wegner in: SSW-StPO, 5. Aufl. 2023, § 257c Rn. 50). Auf nichts anders stellt letztlich auch der 1. Strafsenat hier ab, wenn er ausführt, dass bei einem umfangreichen Verzicht auf die Stellung von Beweisanträgen „die Verletzung der Aufklärungspflicht zu besorgen sei“.
Was den Verstoß gegen die Belehrungspflichten anbelangt, ist zu beachten, dass das Gericht bereits zusammen mit dem Verständigungsvorschlag die von § 257c Abs. 5 StPO vorgeschriebene Belehrung über die nach § 257c Abs. 4 StPO mögliche Lösung des Gerichts von der Verständigung erteilen muss (zum Ganzen auch Ignor/Böhm in: MAH Strafverteidigung, 3. Aufl. 2022, § 13 Rn. 51 ff.). Diese Lösungsmöglichkeiten sind vielfältig und für den Angeklagten nicht ohne weiteres kalkulierbar. Die Belehrung hat daher sicherzustellen, dass der Angeklagte, bevor er eine Verständigung eingeht, deren Bestandteil das Geständnis ist, vollumfänglich über die Tragweite seiner Mitwirkung an der Verständigung informiert ist.
Eine Verständigung ohne vorherige Belehrung verletzt den Angeklagten in seinem Recht auf ein faires Verfahren und in seiner Selbstbelastungsfreiheit (allg. Meinung, vgl. nur Jahn/Kudlich in: MünchKomm StPO, 1. Aufl. 2016, § 257c Rn. 181 m.w.N.). Bleibt die unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommene Verständigung bestehen und fließt das auf der Verständigung basierende Geständnis in das Urteil ein, beruht dieses auf der mit dem Verstoß einhergehenden Grundrechtsverletzung, es sei denn, eine Ursächlichkeit des Belehrungsfehlers für das Geständnis kann – ausnahmsweise – ausgeschlossen werden, weil der Angeklagte dieses auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte. Letzteres erfordert seitens des Revisionsgerichts konkrete Feststellungen (nicht näher belegte Vermutungen genügen nicht, vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.08.2014 - 2 BvR 2048/13 - NJW 2014, 3506).
Daher geht der 1. Strafsenat hier folgerichtig davon aus, dass in der Regel das Urteil auf einem Unterlassen der Belehrung beruht (so auch BGH, Beschl. v. 06.11.2018 - 5 StR 486/18 - NStZ-RR 2019, 27). Eine Heilung eines Verstoßes gegen § 257c Abs. 5 StPO ist nur dann möglich, wenn das Gericht nachträglich auf den Fehler und die daraus folgende gänzliche Unverwertbarkeit der Zustimmung des Angeklagten ausdrücklich hinweist sowie die versäumte Belehrung nachholt und eine nunmehr verbindliche Zustimmungserklärung einholt (BGH, Beschl. v. 21.03.2017 - 5 StR 73/17 - NStZ-RR 2017, 151). Da die Strafkammer vorliegend aber keine rechtsfehlerfreie Wiederholung des von dem Verfahrensfehler betroffenen Verfahrensabschnitts vorgenommen hat, war das Urteil im Wege der Revision aufzuheben.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung zeigt deutlich, dass (selbst bei großen Wirtschaftsstrafverfahren) Verständigungen, die aus verschiedenen Gründen rechtswidrig sind, offenbar immer noch Usus sind. Diese Feststellung belegt auch eine 2017 vom (damaligen) BMJV in Auftrag gegebene empirische Studie, deren ernüchternde Ergebnisse seit November 2020 vorliegen. So gaben rund 44% der befragten Richter, 59% der Staatsanwälte und gar 81% der Verteidiger an, von informellen Absprachen erfahren zu haben. Auf die Häufigkeit in der eigenen Praxis angesprochen, antworteten ca. 29% der Richter, dass eine informelle Absprache schon einmal in ihrer eigenen Praxis vorgekommen sei; Staatsanwälte und Strafverteidiger schätzten das Aufkommen informeller Absprachen deutlich höher ein (Altenhain/Jahn/Kinzig, Die Praxis der Verständigung im Strafprozess, S. 252, 264 ff., 268, 273, 276, 369 f., 445 ff., zusammenfassend: S. 521 ff. 532, 535 f.).
Diese Studienergebnisse sind Wasser auf die Mühlen der Kritiker der gesetzlichen Verständigung. Und in der Tat lassen sie auf ein weiterhin mangelhaftes Bewusstsein für die Verbindlichkeit der rechtlichen Anforderungen an eine Verständigung schließen, Dies wird im vorliegenden Fall besonders augenscheinlich, denn bei den verfahrensgegenständlichen Verstößen kann kaum argumentiert werden, dass die einschlägigen Regelungen und deren Auslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zu komplex oder zu unübersichtlich seien (ähnliche Erwägungen finden sich beispielsweise in BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 - NJW 2013, 1058). Vielmehr hätte wohl schon die sorgfältige Gesetzeslektüre oder ein Blick in einen beliebigen StPO-Kommentar ausgereicht, um einen Angeklagten fehlerfrei zu belehren oder in Erfahrung zu bringen, dass die Verknüpfung eines Strafrahmens mit dem umfassenden Verzicht auf die Stellung von Beweisanträgen vom Gesetzgeber als Paradebeispiel eines unzulässigen Prozessverhaltens i.S.d. § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO angesehen wird.
Wenn solch klare gesetzlichen Anforderungen an eine rechtmäßige Verständigung nicht eingehalten werden, ist dies nur schwer zu akzeptieren. Gerichte und Verfahrensbeteiligte sind nun einmal verpflichtet, sich an die strengen, den Schutz der Beschuldigten bezweckenden Formen des Strafprozesses zu halten. Oder um es in den Worten des BVerfG zu sagen: „Im Rechtsstaat des Grundgesetzes bestimmt das Recht die Praxis und nicht die Praxis das Recht“ (BVerfG, Urt. v. 19.03.2013 - 2 BvR 2628/10 - NJW 2013, 1058).
14 Jahre nach Einführung des Verständigungsgesetzes und 10 Jahre nach dem Grundsatzurteil des BVerfG sollten in der Praxis wenigstens derart offensichtliche Verstöße, wie sie der vorliegenden Entscheidung des BGH zugrunde lagen, endgültig passé sein. Andernfalls wird die Legitimität staatlicher Strafverfolgung in toto beeinträchtigt, was wohl selbst die größten Kritiker der Verständigung im Strafverfahren kaum wollen können.



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